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Gibt es realistische Chancen für eine transnationale Zukunft?

Wir alle, die wir uns diesen Planeten teilen, nehmen unsere Welt ganz unterschiedlich wahr. Dafür sorgen Herkunft, Sozialisierung, Familie, Werte, Normen. Somit schaffen wir uns auch unterschiedliche Realitäten, leben in gewisser Weise in Paralleluniversen.

Natürlich gibt es viele Faktoren, die diese Realitäten formen. Auf zwei “Extreme” möchte ich in diesem Artikel einmal genauer eingehen: Die Realität von Menschen mit nationalistisch geprägtem Denken und die Realität all jener Menschen mit transnationalistisch geprägtem Denken. Nennen wir sie der Einfachheit halber die “Nationalen” und die “Transnationalen”.

Zwar spiegelt sich die Realität nur über Wahrnehmung und geistige Leistung als Erscheinungen im Bewusstsein jedes Menschen wieder. Trotzdem gibt es zwischen realen Objekten und den Erscheinungen enge Beziehungen. Dies führt dazu, dass in der Regel Personen, die dasselbe Objekt sehen, über eine annähernd gleiche Erscheinung verfügen. Kurz: Sie sehen ein Objekt und können es objektiv beschreiben (sie sehen annähernd das Gleiche, zumindest dann, wenn es sich um ein einfaches Objekt handelt und Dinge wie Farbwahrnehmung oder Assoziationen keine entscheidende Rolle spielen).

Komplexere Zusammenhänge der Realitätswahrnehmung

Was bei Objekten ganz gut funktioniert, wird wesentlich schwieriger, wenn es um komplexere Zusammenhänge der Realitätswahrnehmung geht. Die Wahrnehmung der Welt lässt sich nicht mehr auf eine allumfassende Realität herunterbrechen. Vielmehr leben wir spätestens hier alle in individuellen Paralleluniversen, wovon manche mehr gemein haben, manche weniger.

Die Sicht auf die Welt wird dabei natürlich auch ganz stark von unserem Umfeld und unseren Erfahrungen geformt. Somit sind die Menschen, mit denen wir uns umgeben, oft in einem sehr ähnlichen Universum unterwegs wie wir selbst. Treffen wir auf einen Menschen, der in einer Realität lebt, die uns völlig unbekannt ist, führt dies im Idealfall zu vorsichtiger Neugierde, meist aber zu radikaler Ablehnung und somit auch zu keinerlei Austausch. Das verfestigt die Unterschiedlichkeiten der Realitäten nur.

Als Beispiel kann man hier die Realitäten politisch rechter und linker Menschengruppen nennen, deren Umfeld unterschiedlicher nicht sein könnte und wo ein Austausch nicht vorhanden ist. Austausch zwischen Andersdenkenden findet kaum statt, aber dieser muss ja lange nicht bedeuten, sich einer Meinung anzuschließen. Man begegnet sich mit Ablehnung. Zumindest wenn man sich überhaupt begegnet. Oft grenzt man sich auf den Verdacht des Realitätsunterschiedes per se ab.

Ebenfalls sehr unterschiedliche Realitäten kann man auch bei Nationalen und Transnationalen Menschen erleben. Gerade in Deutschland ist hier ein Austausch schwierig. Stark national geprägte Menschen werden pauschal in die rechte Ecke geschoben. Zwar gibt es sicher Potential für Überschneidungen, aber ein national denkender Mensch muss noch lange kein Rechtsnationalist sein. Zwischen den Begriffen liegen klare Unterschiede. Er bedeutet erst einmal nur, dass man sich selbst stark über den Nationalstaat, dem man angehört, identifiziert. Es bildet somit des Gegenstück zum Transnationalisten.

Aber auch hier gilt: Man lebt in anderen Realitäten. Dies führt auch dazu, dass sich die Polarität verschärft, anstatt einen Konsens zu erzeugen.

Während sich bei national-geprägten Menschen das eigene Universum oft auf die sie umgebenden Regionen oder Landesgrenzen beschränkt, können Menschen mit transnationalistischer Prägung oft nur noch wenig Sinn in den von Menschenhand auf Landkarten gezogenen Linien wahrnehmen. In ihrem Leben gibt es zu viele Bereiche, in denen diese Linien eher hinderlich sind oder sogar schon überwunden wurden. Für national-geprägte Menschen sind diese Linien oft identitätsstiftend und somit stellt das Verschwinden ihrer Bedeutung eine existentielle Bedrohung für sie dar.

Definition Transnationalismus – das sagt Wikipedia:

“Transnationalismus ist ein Teilprozess der Globalisierung und bezeichnet in der Soziologie und ihren Nachbardisziplinen ein Bündel von Phänomenen, die aus sozialen Interaktionen über Grenzen von Nationalstaaten hinaus resultieren. Hierbei unterscheidet sich der Transnationalismus gegenüber dem Internationalismus dadurch, dass bei ersterem Nicht-Staatliche Akteure gemeint sind.”

Während in der Vergangenheit Transnationalismus eher durch einen transnationalen Familienhintergrund oder durch Migration entstanden ist (oder durch beides), gibt es durch die Digitalisierung und weltweite Vernetzung nun auch neue Formen des Transnationalismus, die dazu führen, dass eben jener zukünftig einen klaren Wettbewerbsvorteil des Individuums darstellt.

Transnationalisten können somit Menschen sein, die durch Eltern aus unterschiedlichen Ländern mit zwei National-Identitäten aufgewachsen sind und sich somit mit beiden Ländern nur eingeschränkt identifizieren. Das können auch Menschen sein, die als Migranten (ggf. sogar mehrfach) das Land gewechselt haben und sich somit mit mehreren Ländern identifizieren, aber insgesamt im geringeren Maße. Ein Transnationalist ist aber auch der digitale Nomade, der einen multilokalen Lebensstil pflegt, zwischen zwei oder drei Heimatbasen hin und her zieht und womöglich der Flaggentheorie folgend in Land 1 und 2 Staatsbürger ist, seine Firmierung in Land 3 unterhält und seinen Wohnsitz in Land 4. Erst recht trifft die auf seine Kinder zu, die womöglich in vielen Ländern aufwachsen.

Kurz: Transnationalisten beziehen ihre Identität nicht allein auf den Fleck Erde, auf dem sie geboren sind. Oft identifizieren sie sich gar nicht oder wenig mit irgendeinem Flecken Erde, sondern vielmehr mit Menschen, gemeinsamen Paradigmen, Werten, Normen. Nationalstolz ist ihnen häufig nicht verständlich.

Ein transnational geprägter Hintergrund kann somit sehr unterschiedlich entstanden sein, und auch hier gibt es, wie immer im Leben, viele Facetten. Die Erfahrungen und das Umfeld führt aber häufig dazu, dass diese Menschen Staatsgrenzen und die Einteilung der Erde in Nationalstaaten anders beurteilen, als ein national geprägter Mensch, der die Landmasse außerhalb seiner Ländergrenzen eher mit Argwohn und einer gewissen Angst verknüpft. Oft sind bei ihm die Ländergrenzen die Grenzen seiner Komfortzone (bzw. der Orte, an denen er sich wohlfühlt), welche zwar bisweilen verlassen wird, meist aber nur, um eine kleinere Komfort-Blase an einem touristisch geprägten Ort zu betreten, in welcher man unter sich bleibt. Möglichkeiten transnationalistischer Verbindungen werden im Keim erstickt. Transnationale Verbindungen können sich durch die Rollenverteilung im Pauschaltourismus nicht entfalten. Und offenbar fühlen sich die Reisenden damit ganz wohl.

Der eher nationalistisch geprägte Mensch ist selbstverständlich kein deutsches Phänomen. Ganz im Gegenteil. Ich denke sogar, dass ein in Deutschland aufgewachsener Mensch mit größerer Wahrscheinlichkeit Grenzen in seinem Kopf und somit auch auf Grenzen auf Landkarten überwinden kann, denn der Stolz auf etwas, das man selbst nicht geleistet oder geschaffen hat (wie bspw. die nationale Zugehörigkeit)  ist bei uns etwas weniger verbreitet als in manch anderem Land. Nationalstolz wird wegen unserer Geschichte stärker hinterfragt – ich begrüße das.

Der Sinn und Unsinn von Nationalstolz

Stolz zu sein auf das eigene Umfeld, die Familie, den eigenen Stamm – durchaus etwas, zu dem man etwas nennenswertes beigetragen hat – ist nachvollziehbar und macht in einer Welt, die Nationalgrenzen langsam (aber sicher) überwindet, auch deutlich mehr Sinn. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass es in einer globalisierten Welt eine der letzten Möglichkeiten ist, Vielfalt zu erhalten und die Welt damit weiterhin interessant zu gestalten.

Wir können enge, soziale Verbindungen zu einer Gruppe (einem Stamm) von 150 Personen aufrecht erhalten. Das Schöne ist: Ein Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb einer solch kleinen Gruppe ist auch ein guter Nährboden für transnationale Netzwerke. Dezentrale Verknüpfungen, unabhängig von Linien, die sich durch Landschaften ziehen. Vielmehr geprägt von persönlichen Verbindungen und Austausch untereinander. Gemeinsamen Werten und Paradigmen. Parallel aber eine Menge Offenheit.

Ein positives Argument für Nationalstolz sollte jedoch an dieser Stelle der Vollständigkeit halber auch noch erwähnt werden: Man hat mit dem Nationalstolz pauschal schon einmal etwas, auf das man stolz sein kann, wenn man selbst nichts eigenes geleistet hat.

Ich persönlich fühle mich deutlich stärker verbunden zu einem transnational geprägten Menschen, der in Vietnam, Indien oder Costa Rica groß geworden ist, als einem stark national geprägten Deutschen, mit dem mich nur der Zufall verbindet, innerhalb derselben Grenzlinien geboren zu sein und dieselbe Muttersprache zu haben.

Trotzdem ist eine nationale Prägung eben auch genau das. Eine Prägung, nicht mehr und nicht weniger. Diese ein Stück weit abzubauen erfordert Prägungen anderer Art. Erlebnisse und Erfahrungen, Kontakte untereinander, Erweiterungen des Horizontes.

Falls jetzt manch einer die Nase rümpft: Geografische Identitäten sind zwar nicht unbedingt wichtig für ein gutes Miteinander der Menschen, aber ich möchte diese noch nicht völlig kaputt reden. In einem kleineren Maßstab können solche Identitätsstifter vielleicht sinnvoll sein. Aber können diese nicht eher fließend sein anstatt gebunden an eine starre Grenzlinie? Sollten diese nicht vielmehr regional sein oder in noch kleineren Einheiten? In einem kleineren Maßstab von Stämmen? So dass sie noch zu überblicken sind. Ich finde regionale Besonderheiten sehr spannend. Und hier hat man auch viel mehr wieder die Chance ein Teil zu sein, Werte zu schaffen, zu recht auch stolz zu sein. Gleichzeitig müssen solche Strukturen aber auch unabhängig von geografischen Strukturen möglich sein, dank des Internets können wir solche Verbünde heute auch anders formen.

Skizze einer möglichen Zukunft

Ohne dies als eine ultimative Lösung betrachtet zu wissen, möchte ich einmal ein Bild von einer alternativen Zukunft skizzieren, in der wir uns zur Identitätsstiftung in kleinen Verbänden zusammenfinden. Diese könnten sich primär aus Lebensentwürfen und Interessen entwickeln als auf Grundlage des Geburtsortes. Verbände oder Netzwerke verschiedenster Ausprägung. Identitätsstiftende oder gar Identitätsentwickelnde Intra-Netzwerke quasi. Manche dieser Verbände sind womöglich stärker nomadisch geprägt, andere weniger und lokal stark verankert – was stark von der Form ihres Broterwerbs abhängig ist. Diese Verbände sind keine in sich geschlossenen Gruppen, sondern in ständigen Veränderungsprozessen. Es gibt viele Querverbindungen zwischen ihnen. Die Verbände sind nicht geschlossen, sondern vielmehr als soziales Netz, als erweiterte Familie, zu betrachten. Dafür bräuchte es eine gewisse Stabilität. Genau wie in Familien Menschen geboren werden und dahinscheiden – aber ein Kern bleibt.

Diese Verbände können sich sowohl auf Grundlage von Interessen oder Lebensentwürfen entwickeln, aber auch aufgrund lokaler Bindungen. Wie dies konkret aussehen würde, lasse ich bewusst offen. Die zahlreichen Interessen-Communities und Mini-Bewegungen, die sich in den letzten 10 Jahren dank der weltweiten Vernetzung bereits gebildet haben, könnten hier nur ein kleiner Vorgeschmack sein.

Wenn man in diese Richtung einmal denkt, tauchen dabei eine Menge Vorteile auf. Zum Beispiel könnten solche Verbände einer Abkehr vom Nationalstolz zuträglich sein.

Die Überwindung des eigenen Egos ist zwar etwas, das jeder mit sich selbst erarbeiten muss, aber das Aufgeben des Nationalstolzes und zugleich das Ablegen eines unnötig aufgeblasenen Individualismus könnte die Überwindung des Ego sehr unterstützen, was insgesamt zu einem harmonischeren Miteinander führen würde.

National geprägte Menschen müssen nicht zum Weltenbummler werden, um ihre identitätsstiftende National-Prägung zu hinterfragen. Sie rückt einfach insgesamt über 1-2 Generationen in den Hintergrund, wenn wir es schaffen, unser Ego zu überwinden.

(Die Gefahren durch unser Ego, und warum wir es schnellstmöglich überwinden sollten, ist genug Material für einen späteren Artikel.)

Zudem könnten diese Strukturen auch ein soziales Netz darstellen, welches nicht an große Staatsapparate geknüpft werden muss, die es erst groß aufblasen, um es dann über Jahrzehnte hinweg langsam wieder zu zertreten. Im Grunde ist das staatliche Rentensystem ja nichts anderes als eine Form des Multi-Level Marketings. Der Letzte zieht – bei der aktuellen Demografie in Deutschland – die Arschkarte.

In kleineren Strukturen lässt sich so etwas besser organisieren und bleibt durchsichtig. So wie es heute noch in vielen ärmeren Ländern geschieht, die sich ein staatlich finanziertes Rentensystem nicht leisten können. Es ist so. In vielen Ländern verbringt man zwar seine letzten Jahre ohne Flachbildschirm an der Wand, erfährt vermutlich aber deutlich mehr Zuneigung und bis zum letzten Atemzug ein “Miteinander”. Neue, familiäre Strukturen müssten dies auch leisten. Ein Miteinander bis zur letzten Minute, ohne trostlose Heime, in die wir die Alten abschieben.

Fazit: Ob es eine realistische Chance auf eine Zukunft gibt, in der Nationalstaaten überwunden werden, oder Menschen zumindest transnationalistisch denken, ist nicht vorhersehbar. Aber unser Zusammenleben und dessen Strukturen zu überdenken, ist sicherlich ein guter Start in diese Richtung.

tl;dr

Organisation in einem unteren Layer von kleineren, offenen Strukturen ohne National-Identität führt zu mehr Vernetzung und Hilfe untereinander. Größere Regierungsorgane sind in ihrem Aufgabenspektrum stärker beschränkt.